LVZ-Interview mit Dr. Hille: „Nicht stille Helden, sondern große Verlierer“
Leipzig. –LVZ v. 27.03.2014
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Sofortige, umfassende Beratung empfiehlt Dr. Josef Hille Menschen, die demenzkranke Angehörige pflegen wollen. Er ist Vorsitzender der Alzheimer Gesellschaft Leipzig und Mitbegründer der Alzheimer Angehörigen-Initiative Leipzig.
Frage: Patientenpflege ist eine Dienstleistung. Wie schaffen es unausgebildete Verwandte, demente Angehörige zu pflegen?
Josef Hille: Viele wollen das. Sie wollen ihre dementen Angehörigen nicht in ein Heim geben. Mit der Pflege werfen sie sich ins Wasser, können aber gar nicht schwimmen. Sie sind überfordert, auf sich allein gestellt, machen Fehler, haben Angst. Und auch die Demenzkranken leben in einem ständigen Gefühl der Angst.
Was sind Fehler aus Unwissenheit?
Demenzkranke ändern sich in ihrem Verhalten und ihrer Persönlichkeit völlig. Sie verlieren den Verstand. Deswegen können nahe Verwandte und Ehepartner ihnen nicht mehr adäquat begegnen. Ihr Verhältnis wird stark konfliktbeladen. Sie werden beschimpft, obwohl sie alles für ihre Angehörigen tun. Es kann zu Tätlichkeiten kommen. Pflegende Angehörige sind nicht die stillen Helden, als die sie gern bezeichnet werden, sondern die großen Verlierer.
Warum?
Weil sie psychisch und physisch Schaden nehmen. Sie haben Schlafverlust. Sie geraten in die Isolation, weil Freunde sie nicht mehr besuchen. Diese meiden den Kontakt, weil sie nicht wissen, wie sie dementen Menschen begegnen sollen. Sie haben keine Chance, mal auszuspannen. Sie verlieren Lebensqualität. Sie erleiden finanzielle Einbuße, weil Pflege und Beruf nicht vereinbar sind.
Wurde dafür nicht die Pflegeteilzeit eingeführt?
Die ist ein großer Flop, weil man nicht in Teilzeit pflegen kann. Außerdem muss der Arbeitgeber seine Zustimmung geben, denn es gibt keinen Rechtsanspruch. Zwei Jahre sind auch viel zu kurz. Eine Demenzerkrankung dauert bis zu zehn Jahren.
Wird Pflegebedürftigkeit der Patienten unterstützt?
Pflegebedürftigkeit schon, aber nicht die Betreuungsbedürftigkeit. Bis zu fünf Jahre im Frühstadium der Erkrankung sind die Betroffenen noch keine Pflegefälle, müssen aber rund um die Uhr betreut werden, weil sie ihr Leben nicht mehr organisieren können. Das wird in keinster Weise bewertet und unterstützt.
Wie können sich pflegende Angehörige helfen lassen?
Sie dürfen die sich anbahnende Erkrankung nicht ignorieren. Sie brauchen sofort umfangreiche Beratung, was medizinisch und verhaltenspsychologisch mit ihren Angehörigen passiert, wie sie betreut werden müssen, welche Leistungen sie beantragen können. Solche Angebote gibt es viel zu wenig. Die Öffentlichkeit muss aufgeklärt werden. Demenz ist eine dramatische Entwicklung für einen Menschen, der den Verstand verliert. Es ist eine unwürdige Art aus dem Leben zu gehen. Demenz ist nicht nur das Leiden der Betroffenen, sondern auch das Leiden der Angehörigen.